GASTBEITRAG in der Frankfurter Rundschau, erschienen am 10.08.2002


Die Interessen der Arbeitslosen müssen mit denen der Wirtschaft gebündelt werden

Von Michael Schumann

Eine neue Arbeitsmarktpolitik muss darauf abzielen, mit den Arbeitslosen als selbstständigen und mitverantwortlichen Akteuren gesellschaftliche Modernisierung zu betreiben. Denn sie kennen ihre eigene prekäre Lage am Besten. Sie sind als Arbeitssuchende die besten Experten für aussichtsreiche Lösungen.

Sozialstaatspolitik trat für die Betroffenen bisher in einer paternalistischen Bevormundungs- und Stellvertreterattitüde auf. Das passt nicht mehr zum immer stärker werdenden Wunsch nach Mündigkeit und Eigenverantwortung. Auch die Wirtschaft setzt zunehmend auf mehr Selbstständigkeit und Selbstverantwortung.

Die Einsicht wächst, dass Arbeit nach strikter Anweisung und Kontrolle auch kontraproduktive Effekte erzielt, dass hingegen Spielräume für selbstbestimmtes Tun sich auszahlen. Ein modernes Politikverständnis räumt deswegen dem Einzelnen mehr Verantwortung ein für die Selbstgestaltung seines Lebens - auch den Arbeitslosen. Dies meint eine Politik ohne eine an die Hand nehmende Fürsorgementalität, aber mit verlässlicher Unterstützung bei der Lösungssuche. Die Idee einer innovativen Arbeitsmarktpolitik lautet deswegen: Sie darf nicht mehr nur für Arbeitslose, sondern muss mit ihnen eine tragbare Perspektive entwickeln.

Innovative Arbeitsmarktpolitik berücksichtigt eine veränderte Interessenlage der Wirtschaft. Die Handlungsbedingungen der Unternehmen haben sich durch die Globalisierung radikal verändert. Komplexe, sich rasch wandelnde und schwerer kalkulierbare Märkte schaffen größer werdende Planungsunsicherheiten. Eine unserer Studien zeigt deutlich: Dies wirkt sich auf das Einstellungsverhalten der Firmen aus. Immerhin spricht die Wirtschaft neben den gemeldeten 500 000 offenen Stellen noch von bis zu einer Million weiteren nicht besetzten Arbeitsplätzen. Diese Lücke wird durch das Missverhältnis zwischen den gesuchten und den von den Arbeitslosen angebotenen Qualifikationsprofilen nur unzureichend erklärt. Hinter den offen bleibenden Stellen verbirgt sich beides: Das Qualifikations-Missmatch und eine "neue Zögerlichkeit" gegenüber Festeinstellungen. Deshalb wären Ausweitung der Zeitarbeit und eine zielgenaue Qualifizierung die passenden Antworten. Ein solcher Ansatz böte den Unternehmen eine erweiterte Personalflexibilität je nach Bedarfsschwankungen und eine passgenaue, öffentlich gestützte Weiterbildung. Geboten werden sollte eine staatlich geförderte "verlängerte Probezeit", die bei Übernahme ins feste Arbeitsverhältnis die betrieblichen Risiken von Fehlbesetzungen erheblich reduziert. Gründe genug für die Wirtschaft, die vorhandenen "stillen Beschäftigungsreserven" stufenweise in normale Arbeitsverhältnisse zu transformieren.

Für die Arbeitslosen wird eine solche Flexibilitätsoffensive nur dann akzeptabel, wenn sie gleichzeitig Zeitarbeit als Beschäftigungsform neu definiert. Die SOFI-Studie zur Leiharbeit zeigt: Die heute praktizierte Zeitarbeit gilt der Mehrheit als "Beschäftigung 2. Klasse" oder gar als "Sklavenarbeit": unsicher, ungerecht und sozial deklassierend.

In der Regie der öffentlichen Arbeitsverwaltung ist deswegen Zeitarbeit ein Stück weit zu "normalisieren". Es müssen auch für sie tarifvertraglich geregelte, der Normalarbeit gleichwertige Beschäftigungskonditionen gelten - nur damit könnte Zeitarbeit vom Stigma der Unsicherheit und Zweitklassigkeit befreit werden. Sie ist dann konzipiert als eine staatlich unterstützte "Beschäftigungsform im Übergang", das heißt als erster Schritt zu einer stabilen Integration ins Erwerbsleben, nicht mehr als dauerhaft einzugehender Beschäftigungsstatus.

Eine solche Perspektive, für den Einzelnen als persönlicher Entwicklungsplan fixiert und von den Firmen durch genaue Bedarfsangaben unterstützt, macht es für die Arbeitslosen zumutbar, sich auf Zeitarbeit und die mit ihr offerierten Qualifizierungen einzulassen. Denn damit könnte Zeitarbeit zu einer notwendigen Etappe einer Aufwärtsspirale werden, nicht mehr als möglicherweise verhängnisvoller Einstieg in den Abstieg.

Die Generallinie einer innovativen Arbeitsmarktpolitik könnte heißen: Im Betrieb vorhandene, aber nicht gemeldete Arbeitsplatzreserven für Arbeitslose mobilisieren durch die Garantie einer qualifizierten Arbeitsvermittlung und Stellenbesetzung. Die Modernisierung der Arbeitsverwaltung ermöglicht durch den Ausbau der Vermittlungs- und Qualifizierungskompetenz sowie die gesicherte Rückkoppelung an den betrieblichen Bedarf maßgeschneiderte Einmündungen in Normalarbeit. Arbeitslose, die keine direkte Rückkehr in Normalbeschäftigung schaffen, wird der Weg über Zeitarbeit angeboten.

Bei einem solchen neuen Status der Zeitarbeit ist auch eine Verpflichtung, diesen Weg zu gehen, zumutbar, da damit die eigene Beschäftigungsfähigkeit gefördert wird. Ein Einverständnis mit den Arbeitslosen, dass Beschäftigungsfähigkeit nur erhalten respektive wiedergewonnen werden kann durch eigene Mitwirkung, ermöglicht eine zwischen Amt, Betrieb und Betroffenen gemeinsam entwickelte Lösungsperspektive. Im "wohlverstandenen" Eigeninteresse der Arbeitslosen muss der Plan überzeugen und die prinzipielle Freiwilligkeit sichern.

Der verabredete "Übergangscharakter" verhindert dauerhafte Dequalifizierung und finanzielle Abwertung. Besonders bei jüngeren, allein stehenden Arbeitslosen kann räumliche Mobilität, die auch Erfahrungs- und Kompetenzzugewinn verspricht, zugemutet werden (jedenfalls bei flankierenden wohnungspolitischen Hilfen, weil mit dem Alleinsein auch familiäre und partnerschaftliche Unterstützung zumeist wegfällt). Sichergestellt muss sein, dass die erworbenen Qualifikationen auch zum Einsatz kommen können. Sonst würde das gesamte Konzept des nachhaltigen Qualifikationsaufbaus bei den Jüngeren unglaubwürdig, weil sie frühzeitig öffentlich gestützt in die Abstiegskarrieren geraten könnten.

Eine innovative Arbeitsmarktpolitik kann auf die Bereitschaft der Arbeitslosen setzen, ihre Lage auch durch eigene Anstrengungen zu verbessern. Aus vielen Studien wissen wir, dass der überwiegende Teil keinen dringlicheren Wunsch hat, als möglichst bald wieder in ein normales Arbeitsverhältnis zu kommen. Das jetzt gestartete VW-Projekt 5000 mal 5000 ist nur ein eindringliches Beispiel: 100 000 haben sich auf die zu vergebenden 5000 Stellen beworben. Die Ausnahme der "Drückeberger" bestätigt allemal nur das Regelverhalten engagierter Arbeitssuche. Eine Beschäftigung verspricht finanzielle Besserstellung und Sicherheit. Es geht den Arbeitssuchenden aber auch um die Teilhabe an Erwerbsarbeit; Lebenssinn ist für viele an gesellschaftlich anerkannter Arbeitsleistung gebunden.

Jeder Versuch, das Arbeitslosenproblem als Kampf gegen eine "Frühverrentungsmentalität" und eine Haltung der "Arbeitsabstinenz" anzugehen und mit finanziellem Druck lösen zu wollen, ist gleichermaßen vergeblich wie falsch. Unterstellt wird dabei als Kardinalproblem ein individuelles Verschulden respektive eine Verweigerungshaltung. Die Betroffenen selbst können dies nur als Verhöhnung zurückweisen. Sie wissen um ihre vergeblichen Bemühungen mangels fehlender Angebote.

Die Arbeitsmarktmisere muss in gemeinsamer Verantwortung aller Akteure bekämpft werden. Die Betroffenen haben ein Recht auf öffentliche Unterstützung. Wer durch Deregulierung sozialen, auch finanziellen Druck organisiert, entmündigt die Betroffenen, stigmatisiert sie für Zustände, für die sie keine persönliche Verantwortung tragen und geht mit ideologischen Scheuklappen an der Realität vorbei. Eine innovative Arbeitsmarktpolitik weiß: Die Unterstützung und damit das notwendige Engagement der Arbeitslosen wird sie nur finden, wenn diese ihnen eine glaubwürdige Gewinnerperspektive anbietet. Nicht nur das "Fördern", auch das "Fordern" muss die Aussicht auf nachvollziehbare Vorteile eröffnen und als Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit verstanden werden.

Michael Schumann ist Präsident des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) in Göttingen. In dem Beitrag skizziert er Elemente einer aus seiner Sicht "innovativen Arbeitsmarktpolitik", die er bei den Ansätzen der Hartz-Kommission bisher vermisst.