Kompetenznetzwerk „Sozioökonomische Berichterstattung“ (soeb_netz)

Sozioökonomische Berichterstattung als wissenschaftliche Aufgabe

Das Kompetenznetzwerk „Sozioökonomische Berichterstattung“ (soeb_netz) ist ein transdiziplinärer Zusammenschluss inner- und außeruniversitärer, sozial- und wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteter Forschungseinrichtungen und Datenzentren. Das Netzwerk ist aus der gemeinsamen Arbeit an drei vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in den Jahren 1999 bis 2016 geförderten Verbundvorhaben „Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland“ (soeb 1 bis soeb 3) hervorgegangen. Die Koopera­tion dient der theoretischen, konzeptionellen und methodischen Weiterentwicklung der wissenschaftsgetragenen Sozial- und Wirtschaftsberichterstattung in Deutschland und in der Europäischen Union, sowie deren Umsetzung. Sie orientiert sich an einem Verständnis von Sozialberichterstattung als öffentlicher Wissenschaft.

Grundlagenarbeit an Begriffen, Konzepten und Fragestellungen

Die Sozialindikatorenbewegung und die empirische Sozialforschung haben bereits in den 1970er und 1980er Jahren den Anstoß dazu gegeben, dass für eine Dauerbeobachtung der gesellschaftlichen Wohlfahrt Indikatorensysteme entwickelt, regelmäßige Datenerhebungen etabliert und Berichtssysteme zu unterschiedlichen Themenfeldern institutionalisiert wurden. Sozialberichte sind so in Deutschland, in der Europäischen Union und in den meisten OECD-Ländern zu einem unverzichtbaren Bestandteil der gesellschaftlichen Infrastruktur geworden. Politische Aufträge und neue Surveys haben in den letzten Jahren noch einmal zu einer größeren Vielfalt und Spezialisierung der Berichtsansätze beigetragen. Konzepte der Lebensqualität und der Wohlfahrt bedürfen immer wieder der neuen Verständigung über normative Grundlagen und empirische Umsetzung. Das Netzwerk soll für die konzeptionelle Grundlagenarbeit und für den langfristigen Kompetenzaufbau einen Rahmen bieten. Es zielt auf Zusammenarbeit und Austausch mit den etablierten Institutionen der Sozialberichterstattung.

Die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission (2009) hat auf europäischer Ebene den Fragen einer Beobachtung und Messung von Wohlfahrtsentwicklung „über das Bruttoinlandsprodukt hinaus“ neue politische Aktualität verliehen. International setzt sich dabei eine Interpretation von Lebensqualität durch, die gemäß dem Konzept der „Capabilities“ Wohlfahrt als Spielraum für individuelle, selbstbestimmte Lebensführung versteht. Parallel hierzu hat sich im deutschen öffentlichen Diskurs verstärkt der Leitbegriff der Teilhabe etabliert, an dem sich die Berichte zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland orientieren. Teilhabe dient heute als normativer Bezugspunkt für die Beobachtung von Ungleichheit und Wohlfahrtspositionen ebenso wie für Konzepte der Gleichstellungspolitik und des sozialstaatlichen Ausgleichs. Eine Reihe neuerer Sozialberichte bezieht sich auf Teilhabe als Gegenbegriff zu Prekarität und Ausgrenzung und als Bedingung gesellschaftlichen Zusammenhalts. Der Begriff wird jedoch nicht einheitlich verwendet und bedarf der konzeptionellen Klärung. Zu bestimmen ist unter anderem, wie sich Teilhabe als Leitbegriff für die Beobachtung von Ungleichheit und Verschiedenheit im Lebensverlauf zu anderen Begriffen der Sozialberichterstattung und Wohlfahrtsmessung verhält: also zu Lebenslage, Lebensqualität, Inklusion und Verwirklichungschancen („Capabilities“). Empirische Beobachtungs- und Messkonzepte für Teilhabe müssen geschärft werden. Normativ zielt Teilhabe nicht auf eine Gleichheit der Ergebnisse, also der realisierten und beobachteten Lebensweisen und Lebensverläufe, sondern auf eine Gleichheit der Wahlmöglichkeiten. Da Teilhabe- und Wohlfahrtseffekte von Lebenssituationen auch davon abhängen, ob Individuen sich für sie entscheiden konnten, besteht eine weitere Aufgabe darin, solche Entscheidungsprozesse zu erfassen und in die Berichterstattung zu integrieren.

Bedingungen für individuelle Teilhabe entscheiden sich auf der Makro- und Mesoebene: in der Volkswirtschaft, den Institutionen, den Unternehmen und den Haushalten. Daher bezieht eine sozioökonomisch erweiterte Sozialberichterstattung die Wohlfahrtsproduktion in die Beobachtung ein. Auf diese Weise ergänzt sie die teilweise hochspezialisierten Berichte zur individuellen Wohlfahrt einerseits und zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung andererseits und überwindet die disziplinären Grenzen zwischen ökonomischen und anderen sozialwissenschaftlichen Zugängen zu ihren Berichtsgegenständen. Mit dem Bericht der Enquête-Kommission Wachs­tum, Wohlstand, Lebensqualität (2013) besteht in Deutschland ein neuer politischer Auftrag, über die Entstehung und Verteilung von Gütern, die für die Wohlfahrt wertvoll sind, unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit indikatorgestützt zu berichten. Das Konzept der Wohlfahrtsproduktion erweist sich als geeignet, um individuelle Teilhabeergebnisse in Beziehung zu strukturellen Teilhabebedingungen zu setzen und zu erklären, wie sich Beschäftigungs- und Bildungssysteme, soziale Nahbeziehungen und Rechtsansprüche in zentralen Teilhabedimensionen auswirken.

Strukturen und Muster, in denen Unternehmen, Staat, Verbände und private Haushalte zur Wohlfahrtsproduktion beitragen, sind zeitgebunden und länderspezifisch. Eine entscheidende Frage für die Sozial- und Wirtschaftsberichterstattung ist es, ob sich die Strukturen in einem gegebenen Rahmen pfadabhängig fortentwickeln oder ob sich ihr Zusammenspiel grundlegend verändert. Der Anspruch, Elemente der Kontinuität und der Transformation des Produktions- und Sozialmodells zu unterscheiden, schließt an einschlägige aktuelle Debatten an, inwieweit man von einem grundlegenden Wandel des demokratisch und sozialstaatlich regulierten Kapitalismus ausgehen kann. Das besondere Interesse gilt daher Konzepten und Indikatoren, die zur Beantwortung dieser Frage beitragen und die Besonderheiten des deutschen Falls im europäischen Kontext herausarbeiten können.

Methoden, Empirie, Indikatoren

Das Kompetenznetzwerk setzt die Arbeiten an neuen Methoden und Indikatoren für die Dauerbeobachtung der sozioökonomischen Entwicklung fort, die in den bisher drei Berichten zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland geleistet wurden. Bei der Analyse von Mikrodaten bedeutet dies insbesondere:

  • Datensätze auf der Makro-, Meso- und Mikroebene für Deutschland und im internationalen Vergleich zu verknüpfen, um individuelle Teilhabechancen und Teilhabeergebnisse erfassen und erklären zu können,
  • Längsschnittdaten entlang des Lebensverlaufs zu analysieren, die verschiedene Lebensbereiche einschließen (etwa Erwerbsmuster und Familienstrukturen bzw. Paarbeziehungen), um zu zeigen, wie Institutionen und Organisationen individuelle biografische Ereignisse beeinflussen und ihre Folgewirkungen bestimmen,
  • objektive Merkmale mit subjektiven Einschätzungen der Befragten zu ihren biografischen Wahlmöglichkeiten, Entscheidungen und Entscheidungsbegründungen zu verknüpfen,
  • durch multivariate Verfahren, Sequenzmuster- und Clusteranalysen das Methodeninventar der Sozialberichterstattung über deskriptive Aufbereitungen von Datenreihen hinaus um komplexe beschreibende und erklärende Verfahren zu erweitern,
  • makroökonomische Projektionen und Szenarien durch Verteilungsanalysen mit Mikrodaten zu fundieren, um zukünftige Bedingungen für Teilhabe abzuschätzen und Gestaltungsspielräume auf den Ebenen der Haushalte, der Unternehmen und der Gesamtgesellschaft zu modellieren.

Soweit dabei Daten benutzt werden können, die noch nicht als Standardprodukte zum Angebot von Forschungsdatenzentren zählen, können sie in der Folge auch für andere Nutzer/innen bereitgestellt werden.

Sozioökonomische Berichterstattung als öffentliche Wissenschaft

Sozialberichterstattung ist Wissenschaft im öffentlichen Auftrag. Da die aus empirischen Analysen gewonnenen Daten nicht für sich selbst sprechen, soll ihre sozioökonomische Erweiterung über eine reine Beschreibung hinaus erklärende Analysen, Projektionen bzw. Szenarien gesellschaftllicher Entwicklung ermöglichen, die über die Vielfalt spezialisierter Berichtsfelder und -themen hinausweisen. Themen und normativen Bezugspunkte sind nicht allein im innerwissenschaftlichen Diskurs zu finden, sondern auch in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung. Sozioökonomische Berichterstattung ist auf den Dialog mit unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten angelegt.

  • Für die politische und zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit nimmt sie eine Aufklärungsfunktion wahr, indem sie empirische Ergebnisse zusammenfasst und deutet. Die Ergebnisdarstellung schließt webbasierte Selbstinformationsangebote nach dem Grundsatz des Open Access, Medienpräsenz und zugehende Präsentationsangebote ein.
  • Im Wissenschaftsbereich sind Kompetenzen der Dauerbeobachtung von Wohlfahrtsentwicklung, Ungleichheit und sozialer Differenzierung in Forschung und Lehre zu verankern und ist Sozialberichterstattung als besondere wissenschaftliche Praxis im Bund, in den Ländern und in den Kommunen fachlich zu unterstützen.
  • Der Austausch über Konzepte, Methoden und Indikatoren findet in spezifischen deutschen und internationalen Fachöffentlichkeiten statt, etwa in der amtlichen Statistik, in Gremien der Dateninfrastruktur, bei Trägern von Sozialberichterstattung und Planung in der Europäischen Union, im Bund, in Ländern und Kommunen, bei Wohlfahrtsverbänden und Sozialpartnern.